GLIM-Kriterien für die Diagnose von Mangelernährung bei Erwachsenen – ein globaler Konsens mit Potential

August 30, 2021

Nick Vonzun, Leiter Ernährungstherapie am Kantonsspital Graubünden und Mitglied der Arbeitsgruppe DRG SVDE-GESKES

Nick Vonzun, Leiter Ernährungstherapie am Kantonsspital Graubünden und Mitglied der Arbeitsgruppe DRG SVDE-GESKES, stellt sich den Fragen zu den GLIM-Kriterien, die 2018 als globaler Konsens über klinische Diagnosekriterien für eine Mangelernährung bei Erwachsenen veröffentlicht wurden. Er ordnet ein, benennt Herausforderungen und wagt einen Blick in die Zukunft.


In Kürze

Mit den GLIM-Kriterien besteht seit 2018 ein globaler Konsensus für die Diagnose einer Mangelernährung bei Erwachsenen im stationären und ambulanten Setting. Diese werden aktuell in den Schweizer Spitälern noch nicht eingesetzt. Ein breiter Einsatz wird erst mit deren Aufnahme in das ICD-Verzeichnis erwartet. Bei mangelernährten geriatrischen Patient*innen und allgemein bei Sarkopenie scheint es sinnvoll, sie bereits heute einzusetzen – im ambulanten wie im stationären Bereich.


Fresenius Kabi: Was sind die GLIM-Kriterien und wer steht dahinter?
Nick Vonzun: Die GLIM-Kriterien sind ein zweistufiger Ansatz für die Diagnose einer Mangelernährung bei Erwachsenen im stationären und ambulanten Setting. Einerseits beinhalten sie ein validiertes Screening-Tool, um Risikopatient*innen zu identifizieren, andererseits ein Assessment für die Diagnosestellung, um die Schwere der Mangelernährung einzustufen. Sie sind das Ergebnis und der Konsensus der «Global Leadership Initiative on Malnutrition» (GLIM), in der sich die internationalen Gesellschaften für klinische Ernährung ASPEN, ESPEN, FELANPE und PENSA zu diesem Zweck zusammengeschlossen haben.

Wie werden die GLIM-Kriterien in der Schweiz heute genutzt?
In den Schweizer Spitälern haben sich die GLIM-Kriterien seit ihrer Veröffentlichung im Jahr 2018 noch nicht etabliert. Ich kenne aktuell selbst keine Institution, die sie anwendet. Dies könnte in Zukunft ändern – es wäre sehr zu begrüssen, wenn eine Mangelernährung in Zukunft weltweit einheitlich definiert würde und es einen Konsens für die Diagnosestellung gäbe. Im Moment werden für die Einstufung unterschiedliche Screening-Methoden eingesetzt. Entsprechend breit ist das Spektrum der Prävalenz-Zahlen. Diese effektiv abzubilden wäre jedoch wichtig für die Indikation einer Ernährungstherapie.

Wo sind die Hindernisse für einen breiten Einsatz der GLIM-Kriterien?
Eine gute Frage. Sie waren wohl zu wenig bahnbrechend, um sie in den Schweizer Spitälern umgehend umzusetzen. Die GLIM-Kriterien sind zwar differenzierter als das etablierte Nutritional Risk Screening (NRS-2002). Doch in vielen Punkten sind sie identisch, wie bei den Kriterien Gewichtsverlust, Body Mass Index, Nahrungsaufnahme oder Schweregrad einer Erkrankung. Es braucht wohl noch etwas Zeit. Die GLIM-Kriterien müssen sich im Alltag noch «beweisen» und benötigen zusätzliche Validierung.

Worin unterscheiden sich die GLIM-Kriterien denn vom heute eingesetzten NRS-2002?
Das Screening, also der erste Teil des zweistufigen Ansatzes der GLIM-Kriterien, lässt sich auch mit dem NRS-2002 durchführen. Im zweiten Teil, der Diagnosestellung und Einschätzung des Schweregrads der Mangelernährung, ziehen die GLIM-Kriterien bei den phänotypischen Kriterien zusätzlich noch die verminderte Muskelmasse als Kriterium bei.

Wie schätzen Sie den Nutzen dieses Kriteriums «verminderte Muskelmasse» ein?
Das ist ein interessanter Punkt –gerade auch für Studien, um noch differenzierter zu erforschen, welche phänotypischen Kriterien welchen Einfluss auf den Ernährungszustand und die Ernährungstherapie haben. In der Praxis gibt es in der Akutgeriatrie Situationen, wo eine solche zusätzliche Messung mit einer BIA sinnvoll wäre, z.B. wenn eine Person an einer Sarkopenie leidet und allein aufgrund eines Gewichtsverlusts erst als leicht mangelernährt gelten würde. Zusammen mit der verminderten Muskelmasse ergäbe sich womöglich eine andere Einschätzung und einen offensichtlicheren Bedarf für eine Ernährungstherapie. Allgemein für Patient*innen mit Sarkopenie, die einen Ernährungssupport brauchen, auch im ambulanten Bereich könnte mit den GLIM-Kriterien noch mehr «gefischt» und adäquat betreut werden.

Was sind weitere Bereiche, wo eine Messung der Muskelmasse sinnvoll wäre?
Es gäbe auf allen Stationen Patient*innen, die von einer solchen differenzierteren Analyse profitieren könnten. Dadurch würden auch Patient*innen erfasst, die mit den bisherigen Screening-Methoden «durch die Maschen» fallen würden. Ich denke da an Patient*innen in einer Intensivstation, in der Nephrologie, der Kardiologie oder auch im ambulanten Bereich, z.B. der Onkologie.

Was müsste für einen standardisierten Einsatz der GLIM-Kriterien in der Schweiz unternommen werden?
Internationale Fachgesellschaften arbeiten daran, die ICD-Mangelernährungscodes im ICD-Verzeichnis auf die GLIM-Kriterien abzustimmen. Sobald das geschafft ist, hätte dies Einfluss auf die Kodierung. Dadurch wären die monetären Anreize für eine rasche Umsetzung der GLIM-Kriterien auch in der Schweiz gegeben.

In welchem Zeithorizont ist eine Anpassung des ICD-Verzeichnisses realistisch?
Ein ICD-Verzeichnis zu ändern ist ein langer Prozess. Es ist aktuell schwierig einzuschätzen, ob dies in zwei oder in zehn Jahren der Fall sein wird. Für uns in der Arbeitsgruppe ist darum denkbar, für die Schweiz entsprechende Kodierrichtlinien früher einzuführen, wenn sich zeigt, dass die Anpassung länger dauert. Es besteht jedoch kein Zeitdruck, da die jetzige Definition und die Ernährungstherapie einer Mangelernährung in der Kodierrichtlinie bereits gut abgebildet sind. Um auch in Zukunft eine professionelle Ernährungstherapie zu gewährleisten, wäre es wichtig, dass die Bindung der Diagnose Mangelernährung mit den entsprechenden CHOP-Codes beibehalten wird, wenn die Definitionen der ICD-Codes nach den GLIM-Kriterien umgesetzt sind.

Wir bedanken uns bei Herrn Nick Vonzun für die Bereitschaft zu diesem Interview und die spannenden Informationen rund um die GLIM-Kriterien.